französische Literatur des ausgehenden Mittelalters

französische Literatur des ausgehenden Mittelalters
französische Literatur des ausgehenden Mittelalters
 
Seine 1392 abgeschlossene Dichtkunst beginnt der Lyriker Eustache Deschamps mit einer Darstellung der Sieben Freien Künste - Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik. Sein eigentliches Interesse gilt der Musik. Das ist nicht überraschend, bildeten doch Musik und Dichtung nicht erst seit den Troubadours eine feste Einheit. Eustache Deschamps aber wollte etwas Neues beschreiben. Er trennte die Musik in eine künstliche und in eine natürliche Erscheinungsform und meinte mit der natürlichen Form die Dichtung.
 
Damit ist in Frankreich die Wendung zu einer reinen Wortdichtung vollzogen, die sich auf die ursprüngliche Musikalität der Sprache besinnt und sie sich zunutze zu machen sucht. Dies gilt für Deschamps selbst, der ein überaus umfangreiches Werk hinterlassen hat, das vor allem aus moralisch-lehrhafter, politischer und satirischer Dichtung besteht. Der geringe Anteil an reiner Liebeslyrik deutet hier im Übrigen ebenfalls eine Neuorientierung der Poesie an.
 
Deschamps' gescheite, liebenswürdige und entschiedene Zeitgenossin war Christine de Pizan (* 1365, ✝ nach 1429), eine der großen Schriftstellerinnen Frankreichs. Wir sind über sie wie über keine andere zeitgenössische Autorin durch ihre Neigung zu autobiographisch-persönlicher Mitteilung in vielen ihrer Texte informiert. Wir kennen ihre glückliche Kindheit und ihre durch ihren Vater, den Leibarzt und Hofastrologen Karls V., bedingte Nähe zum Königshaus. Wir sind über die privaten Unglücksfälle unterrichtet, die sie neben allen historisch begründeten heimsuchten: Ihr bewunderter Vater und ihr geliebter Mann starben kurz hintereinander, von ihrem 25. Lebensjahr an musste sie für ihre drei Kinder allein sorgen, jahrelang um Einkünfte prozessieren und sich in einer arroganten, männlich geprägten Umwelt behaupten. Ein Zeichen des Niedergangs war für sie die mangelnde Unterstützung, die die Aristokraten den Witwen zukommen ließen. So entwarf sie, empört über ein frauenfeindliches Pamphlet, in ihrem »Buch von der Stadt der Frauen« ein eigenes Gemeinwesen für die Frauen, forderte sie zu tugendhaftem, entschlossenem Leben auf und führte immer wieder eindringlich die Bedeutung weiblicher Bildung vor Augen. Denn nur ihre umfassende Belesenheit und ihre künstlerische Sensibilität waren es, die sie dazu befähigten, im Dienst von Fürsten und Königen selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Sie schrieb lyrische Texte über Liebe und Trauer, über Fürstenschwäche und christlichen Trost im Stil der Zeit und ließ sie in herrlich gestalteten Handschriften zusammenstellen, sie brach einen ersten großen literarischen Streit wegen Jeans de Meung Teil des Rosenromans vom Zaun und pries noch kurz vor ihrem Tod geradezu visionär die Bedeutung der Jeanne d'Arc.
 
Genau wie sie war Charles d'OrléansCharles d'Orléans (* 1394, ✝ 1465) eingewoben in die Wirren des Hundertjährigen Krieges, genau wie bei ihr fasziniert bei ihm die individuelle Stimme, die alle allegorischen Züge mit persönlicher Erfahrung, mit persönlicher Sehnsucht und persönlichem Leid durchdringt. Der Herzog von Orléans geriet bei der verheerenden Niederlage der Franzosen bei Azincourt 1415 in englische Gefangenschaft, aus der ihn erst 1440 ein hohes Lösegeld befreite. In seiner Dichtung entwarf er auch in den langen Jahren des Exils einen Freiraum der Existenz, in dem er die Rituale der höfischen Liebe ebenso zelebrieren konnte wie die Verlorenheiten der Melancholie oder die ironischen Brechungen einer Seelenruhe, die die Maske der Resignation ist. In den letzten Lebensjahrzehnten des Herzogs wurde sein Hof in Blois ein weithin ausstrahlender kultureller Mittelpunkt. Charles war etlichen Dichtern ein großzügiger Mäzen, zu ihrer Förderung schrieb er Wettbewerbe aus; an einem beteiligte sich 1458 François Villon (* 1431, ✝ nach 1463).
 
Nach einer Vorgabe des Dichterfürsten verfasste Villon eine Ballade, deren Einzelzeilen jeweils einen logischen Widerspruch ausdrücken, eine literarische Form, deren Vorbild der genaue Kenner des Rosenromans bei Jean de Meung gefunden haben könnte:
 
»Ich sterbe vor Durst neben der Quelle, / Heiß wie Feuer klappere ich mit den Zähnen, / In meiner Heimat bin ich in fernem Land;.../ Nichts ist mir gewiss außer dem Ungewissen;...«.
 
Villons Biographie kennzeichneten zu diesem Zeitpunkt bereits jene Dissonanzen und Widersprüche, die ihn zu dem mittelalterlichen Dichter machten, um den sich die meisten literarischen Legenden und Spekulationen ranken. Seit 1452 verfügte er über den akademischen Grad eines Magister Artium, 1455 ermordete er im Streit einen Priester, und 1456 erbeutete er mit einigen Kumpanen bei einem Einbruch im Collège de Navarre 500 Goldtaler. Gerichtsakten, Einkerkerungen und Begnadigungen begleiteten diese Verbrechen, denen bis zu seinem spurlosen Verschwinden 1463 noch weitere folgten. Aber aus diesem haltlosen Leben in größter Armut, in Demut, Aufbegehren und Gesetzlosigkeit am Rande der Gesellschaft erhob sich die unverwechselbare Sprachgewalt eines Dichters, der mit den literarischen Traditionen und Konventionen seiner Zeit zutiefst vertraut war, sie aber zugleich satirisch, spöttisch, ironisch, kurzum verletzlich, durchbrach, um sich als gezeichnetes Individuum, als Mensch zwischen Schuldbewusstsein und Erlösungsbedürfnis, darzustellen.
 
Das »Kleine« und das »Große Testament« sind die Basis für Villons Nachruhm. Das »Kleine Testament«, französisch »Le lais« (= das Legat), ist um Weihnachten1456 entstanden, in unmittelbarer Nähe zu dem erwähnten Einbruch. Der Dichter schlüpfte in die Rolle des höfischen Ritters, der an seiner treulosen Geliebten leidet. Aber er entlarvt und unterläuft im Wissen um die eigene Hinfälligkeit die nach höfischem Brauch zu erwartende Leidensbereitschaft des höfisch Liebenden und sucht sich eine neue Geliebte. Auch dies verweist literarisch auf einen Bruch mit mittelalterlichen Vorstellungen. Im Fortgang des Textes parodierte er dann die juristisch geregelte Form des Testamentes und verteilte den fiktiven ritterlichen Nachlass als Nonsenslegat, bevor er sich am Ende gelehrt und scholastisch als ein seiner Sinnlichkeit verfallener Melancholiker verabschiedete.
 
1461, vielleicht vom Erfolg des ersten Testamentes inspiriert, schriebVillon das »Große Testament«, französisch »Le testament«, das in seiner Uneinheitlichkeit und Gebrochenheit ungleich vielfältiger ist. Der Dichter war gerade von Ludwig XI. begnadigt worden und hatte das Gefängnis verlassen. Er beschreibt seinen Lebensweg, seine Sündhaftigkeit, betrauert die verflossene Jugend, beklagt das Alter und malt die Schrecken des Todes aus. Die an dieser Stelle eingefügte »Ballade über die Frauen von einst« beschwört in wunderbarer Verdichtung das unaufhebbare Vergehen des Einzelnen in dem Refrain »Mais où sont les neiges d'antan?« (= Doch, wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?). Die Legate dieses Textes bestimmte Villon für Wucherer und Betrüger, für geistliche und weltliche Machthaber, aber auch für die anderen Armen, mit denen er sich in seiner Gesellschaftskritik solidarisierte.Im Angesicht des Todes brauchte er kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. Mit tiefer Trauer und furchtloser Spottlust, mit klarsichtiger Bitterkeit und aufwieglerischer Unbotmäßigkeit, mit den leisen Tönen der Sohnesliebe und des Gebetes zeichnete er ein Bild seiner Zeit, in deren Höhen und Tiefen er sich mit hoher Bewusstheit als »armer Villon« verwickelt sah, und fand damit zu einer über die Zeiten hin gültigen Darstellung der Situation des Menschen in dieser Welt.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Hausmann, Frank-Rutger: Französisches Mittelalter. Stuttgart u. a. 1996.
 
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, herausgegeben von Klaus von See. Band 8: Europäisches Spätmittelalter. Wiesbaden 1978—85.

Universal-Lexikon. 2012.

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